Menschen gibt’s, die gibt’s gar nicht! Oder doch?
Harburg, Bahnhofsvorplatz.
Das große Wunder der geduldigen, diszipliniert im ständigen Oval langsam fahrenden Autofahrer auf der Suche nach einer Parklücke. Und das besonders im Chaos des Berufsverkehrs bei der im Herbst schon früh einsetzenden Dunkelheit.
O, welche Vorsehung! Auf dem Behindertenparkplatz war das linke Feld von drei markierten Plätzen frei. Herr Schobermann wollte sein Fahrzeug gerade in die Lücke setzen, ale er eine ältere Frau bemerkte, die mit ihren ausgebreiteten, hin und her schwenkenden Armen die Luft zu verdrängen schien. Es sah aus, als ob sie in einer Marine-Schule die Hand-Seezeichen des Morse- Alphabets gelernt hätte und nun diese Fähigkeit ihrer Umwelt demonstrieren wollte.
Herr Schobermann stieg aus, um der Frau zu bedeuten, sie möchte an die Seite gehen, damit er
einparken konnte. Hinter ihm warteten die nächsten Autofahrer, um in der Langsamfahr-Suchrunde wieder nach vorn aufschließen zu können.
„Hier können Sie nicht parken! Ich bin Rollstuhlfahrerin!“ schrie sie laut.
Herr Schobermann wollte so schnell nicht aufgeben und setzte seinen Wagen halb auf den Bürgersteig, halb in die Büsche der Anlage, weil er schnellstens Platz machen wollte.
Er konnte ja die Frau nicht vom freien Parkplatz wegziehen und wollte sie auch nicht überfahren.
Er stieg auf der Beifahrerseite umständlich aus, indem er über das Schaltgestänge seines Wagens mühselig kletterte. Die stacheligen Büsche der Bahn-Grünanlage hätten ihn beim Aussteigen auf der Fahrerseite erheblich behindert, wenn nicht gar verletzt. Und eine Gartenschere oder Säge hatte er nicht bei sich.
„Ist es Ihnen recht so?`“ fragte er die Frau, deren Arme jetzt etwas zur Ruhe gekommen waren.
„Ich hole die Bundespolizei! Hier ist mein Ausweis!“
„Ich habe auch einen Ausweis!“ verkündete Herr Schobermann stolz und hob ihn hoch. Erst später bemerkte er, dass er eine Parkscheibe hochgehalten hatte, was man aber in der Dunkelheit nicht von einem Ausweis hätte unterscheiden können.
„Es gibt hier keine Bundespolizei!“ belehrte er die Frau. „Für Sie ist die Landespolizei zuständig. Sie sind hier in Hamburg. Wussten Sie das?“
In die noch bestehende Parklücke wollte ein anderer Autofahrer hinein.
Die Frau konzentrierte sich nun ganz auf ihn und auf ihre „Armarbeit“.
Als ob sie Windmühle oder Vogelscheuche spielen wollte, so komisch wirkte sie jetzt, weil ihre ausgebreiteten Arme hin und her schwenkten.
Herr Schobermann hatte vorher so etwas bisher nur bei seinem Freund gesehen, wie der seiner Schülerklasse auf einer Tageswanderung mit ausgebreiteten Armen und mehreren Drehungen seines Körpers um die eigene Achse auf einer Viehweide die Himmelsrichtung Osten zu erklären versuchte.
Er hörte, wie auch der junge Autofahrer die Platz-Blockiererin fragte, weshalb sie ihn an der Besetzung des Parkplatzes hindere.
Sie rief wieder: „Rollstuhlfahrerin! Ich habe einen Ausweis!“ und ruderte weiter mit ihren Armen.
„Erwarten Sie ein Auto?“ fragte der Fahrer höflich. „Sie dürfen als Fußgängerin keinen Parkplatz besetzen! Wissen Sie das?“
Sie rief wieder: „Bundespolizei!“ Der Autofahrer schüttelte den Kopf, gab sein Ansinnen auf und reihte sich erneut in die Phalanx der Endlos-Suchschlange ein.
„Ich hatte heute einen so schönen Tag, und Sie spielen hier Windmühle und Vogelscheuche zugleich und gebärden sich nicht wie eine Dame, sondern wie eine Furie! Meine Frau sagt
immer, wie sollen die Menschemn in der Welt Frieden halten, wenn sich nicht einmal zwei Personen gütlich einigen können!“
„Halten Sie den Mund!“ keifte sie Herrn Schobermann an. Zu seinem grenzenlosen Erstaunen öffnete die Frau die Fahrertür des Wagens rechts neben ihr, setzte sich auf den Sitz und startete den Motor, fuhr rückwärts aus dem Parkfeld wie ein Profi und sauste davon.
Zurück blieb ein konsternierter Schobermann mit einem schräg halb in den Büschen, halb auf einem schmalen hohen Asphaltstreifen nach links oben gekippten Auto.
Frau Schobermann kam vom Zug aus Stade, blieb kopfschüttelnd vor dem Auto stehen, warf ihren Rucksack auf die Rückbank, setzte sich auf den Beifahrersitz, während ihr Mann über sie griff, ächzend mit Mühe die Handbremse und den Schalthebel aus der Verankerung löste und das Auto rückwärts auf die Fahrbahn schob.
„Wie hast du denn heute so komisch geparkt? Ist doch alles frei nebenan!“ hörte er sie beim Schieben rufen.