Was war passiert?
Seit zwei Tagen flatterte eine Bachstelze gegen ein Fenster des Wohnzimmers.
Immer und immer wieder!
Manches Mal bumste sie mit dem Köpfchen so sehr gegen das doppelwandige Glas, dass man es bei geschlossenem Fenster hörte.
Herr Schobermann überlegte: Wenn er so gegen eine Scheibe knallen würde, hätte er sich entweder das Genick gebrochen, oder die Scheibe wäre zu Bruch gegangen. Nicht genug damit.
Die Bachstelze flog auch gegen das höher gelegene Fenster.
Vor beiden Fenstern flatterte sie so lange, bis entweder die Kräfte sie verließen , oder sie in dieser Art von Stress eine flüssig graue Masse gegen beide Fenster oder deren Rahmen geschleudert hatte.
Frau Schobermann war einerseits entsetzt darüber, dass die am Vortag beim „Frühjahrsputz“ gesäuberten Fenster nicht wiederzuerkennen waren. Andererseits bedauerte sie den kleinen Vogel mit „O Gott, o Gott, wenn sich das arme Tier nur nicht etwas tut!
Männer denken da etwas anders. „Selbst Schuld!“ meckerte Herr Schobermann, weshalb macht er
solche Zicken! Blöder Vogel!“
Seine Frau überlegt krampfhaft: „Wie kommt er bloß auf „er“? Woher weiß mein Mann eigentlich, dass der Vogel ein Männchen ist?“
„Das Vögelchen ist nicht blöde“, ereiferte sie sich, „nur der, der es so bezeichnet, denn woher will er wissen,was der kleine bunte, blau-schwarze Piepmatz mit seinem Gebaren vorhat?
Sicher ein psychisch gestörtes Tier!“ gab sie zum Besten.
Darauf ihr Mann unwillig und unverständig, wie sie fand: „So‘n Quatsch! Vögel haben keine Seele!“
Ein Wort gab das andere, und am Ende waren Beide zerstritten.
Der Disput beinhaltete am Ende Darwins Evolutionstheorie, das Thema Unterschiede zwischen Mann und Frau und den Existenzkampf im Allgemeinen und bei Bachstelzen im Besonderen.
Herr Schobermann ärgerte sich nicht über die beschmutzten Scheiben, sondern darüber, wie unlogisch und gefühlsbetont die Frauen an ein Sachthema herangingen.
Bei frühlingshaftem Wetter nahm er eine „Auszeit“ im Garten und beobachtete, wie zwei Amselmännchen sich immer wieder bekriegten, dass die Federn flogen. Jeder wollte das braungraue Weibchen für sich beanspruchen.
Das Amselweibchen scherte sich nicht um den Kampf, sondern flog immer wieder zum Nest
in der Efeu- und Schlingknöterich-Hecke.
„Ja,ja,“ dachte Herr Schobermann, so war es schon immer. „Die Männer führen Kriege, und die Frauen kümmern sich um den Nachwuchs.“
Bevor er die Terrassentür öffnete, sah er sein Spiegelbild in der Scheibe der Glastür.
Er fasste sich an den Kopf und kam sich vor wie Columbo¹), der gerade einen Fall gelöst hatte.
„Das ist es!“ rief Herr Schobermann aus. „Von außen wirkt die Scheibe dunkel und wirkt daher wie die Silbernitrat-Schicht auf der Rückseite von Spiegelglas. Er sieht immer einen Nebenbuhler,
und glaubt in seiner Erinnerung an die Existenz eines Konkurrenten, den es zu vertreiben gilt.
„Es ist beinahe wie bei allen Tieren. Immer geht es um die Weibchen!“ versuchte er, seine Frau zu
versöhnen.
„Dann kannst du ja froh sein, dass du damals das große Glück hattest, bei dem großen Ansturm deiner männlichen Konkurrenz mich abgekriegt zu haben!“ gab seine Frau spitz zurück.
Darauf sagte ihr Göttergatte nichts mehr.
Ihm kam die Erinnerung an seinen Enkel Lennart, der zu seinem Kinder-Geburtstag seine vierte Grundschulklasse zur Waldbegehung mit einem Förster eingeladen hatte. Als Aufsicht war Lennarts Opa Schobermann mit dabei.
Beim Grillen von Bratwürstchen nahe der Köhlerhütte zeigte Förster Brandes den Viertklässlern
ein riesiges Bild, auf dem Hirschkühe zu sehen waren, alle in einer Reihe mit dem Hinterteil nach vorn. Vor ihnen stand in machohafter stolzer Pose der Platzhirsch, wohlgefällig die Schar seines Harems von hinten betrachtend. Der „Platzhirsch“ hätte vorher alle männlichen Rivalen aus dem Weg geräumt, erklärte der Forstmeister den Kindern.
Ein Junge fragte den Waldfachmann: Warum stehen die Weibchen alle in einer Reihe verkehrt herum?“
Ein pfiffiger Klassenkamerad wusste die Antwort:
„Sie wollen den Hirsch bei guter Laune halten. In dem sie ihm ihr Hinterteil zeigen, wollen sie erreichen, dass er ihnen gewogen sein soll! Für Jede von ihnen wäre das eine Ehre!“
Die Erwachsenen drehten sich von dieser Szene weg, damit die Schüler nicht in ihre Gesichter schauen konnten. Herr Schobermann hatte noch nie gehört, dass ein Kind so ein gehobenes Wort wie „gewogen sein“ gebrauchte. Kinder schnappen wohl manchmal etwas auf, was sie selber gar nicht verstehen, und wenden es dann zu falschen Zeiten in falscher Umgebung an!
¹) „Columbo“ hieß eine TV-Serie, in welcher der Kriminalinspektor durch ein Zufalls-Aha-Erlebnis
oder einen besonderen Trick zur Lösung seines Falles kommt.