Alfred ist ein Unikum.
Er meint es ja so gut!
Ab jedem Herbst lässt seine Riesen-Rotbuche, die fast sein ganzes Grundstück überschattet, den ganzen Winter über ihre Blätter fallen. Der Wind kommt immer von Westen. Wenigstens bei Schobermanns.
Er treibt die Blätter zu Herrn Schobermanns Haus und bildet nicht nur vor der Garage eine Wehe, ideal für Igel zum Überwintern.
„Alfred! Junge! Die Blätter deiner Buche bilden im Wind bewegliche Strudel und türmen sich zu Haufen auf! So redete Herr Schobermann seinen Nachbarn an, wenn der spitzbübisch den Mund spitzte, dabei eine schelmische Miene aufsetzte und wie ein Lausebengel aussah, der etwas ausgefressen hatte. „Wieso das denn? Bei mir sind keine Blätter! Wer weiß, wo die herkommen! “
Alfred genoss es jedes mal, seine sprichwörtliche Bauernschläue aus dem Sack zu lassen, wie hier auch:
„Du sollst a u c h ’was von der Buche haben!“
Bei Senioren-Grill-Nachmittagen in der warmen Jahreszeit lässt er es sich nicht nehmen, aus dem Gemeinschaftsdeputat aus der Küche eine große Flasche Oldesloer Korn zu holen und jeden dazu zu animieren, die normalen Trinkgewohnheiten zu erweitern oder zu ändern.
„Stell dich nicht so an, Edith!“ duzt Alfred sie wie jede andere Seniorin dieser Runde.
„Allohol macht dissipiniert! Ist gut für die Verdauung und für die Schönheit! So jung kommen wir nicht mehr zusammen!“
Mit den Männern geht er rauer um: „Komm, Fritz,auf einem Bein kannst du nicht stehen!“
„Was soll denn die notleidende Getränke-Industrie von dir denken?“
„Trink aus, Helmut, die Nacht wird kühl!“
„Keiner soll hier verdursten, Hans!“
„Hau weg, das Zeug¹), Gustav! Vernichten wir es!“
Und dabei nippt er an jedem Tisch stehend an seinem vollen Schnapsglas, so dass an keinem Tisch einer merkt, dass er im Grunde nicht mit trinkt.
Dabei erzählt er gern die Geschichte von dem mörderischen „Buben-Spiel“ ²), auf welche Weise wer in früheren Jahren „antrinken“.„weiter trinken“, „austrinken und schließlich die Runde „bezahlen“ musste. Alle kennen inzwischen diese Geschichte, aber sie hören alle immer wieder geduldig zu.
Alfred kam aus der Tür, winkte Herrn Schobermann heran und wollte offensichtlich klönen³).
„Du, Alfred, ich habe jetzt keine Zeit. Ich habe einen Termin beim Arzt!“
„Bei‘n Aazt? Was willst du denn bei‘n Aazt? Du bist doch kerngesund! Trink dich lieber einen!“
Herr Schobermann bereute inzwischen, dass er so unvorsichtig war und das Wort „Arzt“ erwähnt hatte.
„Trink dich einen! Da hast du mehr davon als im vollen Wartezimmer zu sitzen. Warum willst du dich womöglich anstecken lassen?“
„Von Wollen kann keine Rede sein! Alfred, ich muss los!“
Alfred ließ nicht locker: „Ich war neulich bei‘n Aazt. Der hat mir seine Hilfe verweigert. Das darf der gar nich! Der hat doch so‘n Eid geschworen. Ein Aazt darf nämlich nicht streiken! Dann wird ihm die Behandlungserlaubnis genommen!“
„Alfred! Junge! Nun mal langsam mit den jungen Pferden! Krieg‘ dich wieder ein! Was ist denn passiert? Warst du in Lebensgefahr?“
„Das nun gerade nicht! Ich kam rein in seine Praxis. Im Flur standen viele Leute, das Wartezimmer war voll. Alle Plätze besetzt. Der Aazt lief immer hin und her, von einem Raum in den nächsten, bis ich ihn erwischte. Ich stellte mich einfach ihm in den Weg und hielt ihm meinen Zettel vor sein Gesicht. Darauf war der Name des Medikaments geschrieben, was mir die Apothekerin empfohlen hatte. Ich fragte also: ‚Herr Doktor, kann ich d a s nehmen?‘ Der Arzt (vermutlich gestresst bei so vielen Patienten:) ‚Bitte, stellen Sie sich bei der Anmeldung an und lassen Sie sich einen Termin geben! Und nun treten Sie beiseite. Ich habe zu tun!’Ja, da stand ich nun wie ein begossener Pudel.“
Frau Schobermann wollte ihre beiden blauen Papiertonnen von der Straße nehmen, da fehlte eine. (Es war schon passiert, dass manchmal eine Tonne im Müllwagen verschwindet, die die Müllwerker dann einfach erst mal drin lassen.) Also rief sie beim Landkreis an und meldete den Verlust. Noch am selben Tag wurde eine (gebrauchte) neue Tonne geliefert.
Drei Tage später rief der gewissenhafte Nachbar Alfred an und sagte, er hätte bei sich im Garten eine weitere Tonne entdeckt. Er bringe sie gleich hinüber, weil er annehme, dass sie zu den Schobermanns gehören würde.
Gesagt, getan.
„Ist das eure Tonne? Ich habe es mir gedacht. Ich hatte plötzlich zwei Tonnen. Hatte gedacht, das wären meine! Die standen nicht nebeneinander.“
„Alfred, das kann passieren. Wir haben aber nun schon eine neue blaue Tonne geliefert bekommen.“
„Na, freut euch doch! Ist doch schön! Jetzt habt ihr drei Tonnen! Wer genießt schon solchen Luxus! Da könnt ihr ordentlich was unterbringen!“ Dabei spitzte Alfred wie immer spitzbübisch seinen Mund.
„Alfred, Junge!“ blieb Herrn Schobermann nichts anderes zu sagen.
Seinem Nachbarn sah er an, dass der sich über dessen gelungene witzige Schlagfertigkeit freute.
Herrn Schobermanns Triumph aber kam, als er Alfred im Wartezimmer beim Arzt traf.
„Helmut, was machst d u denn hier?“ rief Alfred laut und für jedermann vernehmlich aus.
Darauf holte Herr Schobermann aus der Innentasche seiner Jacke ein Fläschchen heraus und hielt es vor aller Augen hoch:
„Ich soll dem Doktor meinen Urin bringen!“ rief er ebenso laut zurück.
* * * * *
¹) „Hau weg den Sch….!“
Hier gebrauchte er einen anderen Ausdruck, der aus Pietät nicht aufgeschrieben wurde.
³) klönen, niederdt. für das Neueste erzählen und hören wollen (Klönschnack;Straßengespräch]
²) Eine Unsitte unter Männern war früher bis in die Sechziger Jahre das mörderische Bubenspiel, heute ggf. noch unter Studenten: Eine „Lage“ (ein halber Liter Bier) wird bestellt. Eine Gruppe bekommt Karten ausgeteilt, jeder eine Karte. (meist Skatkarten). Wer den ersten Buben bekommt, muss antrinken, wer den zweiten bekommt, weiter trinken, das bedeutet nichts, denn man kann so tun, als ob man tränke. Beim dritten Buben heißt es „austrinken“, und da passen alle auf. Wer den vierten Buben bekommt, muss die Runde bezahlen.
Ginge es nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung, kämme jeder gleich oft dran. In der Praxis liegen zwei von zehn hinterher unter dem Tisch, und einer bezahlt.