Es fing damit an, dass Omas, Tanten, Großtanten und deren Freundinnen, alles „gestandene“ Frauen, mit dem Ausruf „Ist er nicht süß?“ dem damals in seinem Kleinkindalter befindlichen Herrn Schobermann mit feucht-nassen Küssen bedachten, an welcher Körperstelle sie ihn auch immer erwischten.
„Komm‘ mal zu mir, mein Helmütchen, mein Mütchen“, und was sie ihm sonst noch an Verzärtelungen an den Kopf geworfen hatten. Daher riss der kleine Helmut künftig immer aus, sobald er ihner gewahr wurde.
Aus heutiger Sicht kann sich der damals so sehr Drangsalierte dieses Kuss-Phänomens nur dadurch erklären, dass früher mehr als heute geküsst wurde, und dass vor allem so viele jungen Männer in den Kriegsjahren des Zweiten Weltkrieges „auf dem Felde der Ehre geblieben“ waren, wie es in den Illustrierten und Tageszeitungen zu lesen und der Rundfunk-Nachrichtenpropaganda zu hören war, so dass bei umworbenen männlichen Vertretern gleich welchen Alters bei der Weiblichkeit akuter Mangel bestand.
Später wurde der inzwischen 12- bis 14-Järige von denselben Tanten gefragt, ob er denn schon mal ein Mädchen geküsst hätte. Auf die Antwort „Ja“ bohrten sie weiter: „Wie ist es dir dabei ergangen?“ „Nicht besonders gut“, gab der Delinquent zur Antwort.
Seine Ohren hätten ihm wehgetan, weil ihm die Vierzehnjährige seine Ohren mit ihren Schenkeln zugedrückt hielt.
Soweit er sich erinnern kann, mochte er nie so gern, dass Mädchen als Spielkameraden bei Rate- und Mut- oder Geschicklichkeitsspielen „dem Ritter“ einen Kuss versprachen, wenn er die Prüfung bestand.
Der kleine Helmut verstand nie, dass sie so etwas als Preis aussetzten.
Ein 5- oder 10-Pfennigstück der Reichsmark-Zeit bis 1948 wäre ihm als Anerkennung lieber gewesen. Er spielte als Kind nicht nur mit Jungen Fußball, „Schnitzeljagd“, „Räuber und Gendarm“, „Cowboy und Indianer“. (Fußbälle waren Mangelware; meist spielten sie mit Draht umwickelten Stofffetzen)
Wenn Mädchen dabei waren, lief alles ruhiger ab. „Stille Post“, „Fischer, wie tief ist die See?“. „Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann?“, “Hänschen, piepe mal!“, „Verstecken“, „Ich sehe was, was du nicht siehst!“ und „Blinde Kuh“ waren bis in die Sechziger Jahre hinein die von der „gemischten Spielgesellschaft“ bevorzugten Spiele.
Die Mädchen durften immer bestimmen, was gespielt wurde.
Kein Bild hat später Herrn Schobermann so fasziniert wie das Jugendstil-Bild von Gustav Klimt „Der Kuss“. Heute hängt es als Reproduktion in seinem Wohnzimmer.
Noch viel später, zu seinem 65. Geburtstag, feierte Herr Schobermann mit etwa 50 anderen Personen im Schützenhaus Hamburg-Marmstorf. Neben lukullischen Genüssen eines Riesen-Buffets in einem Seitenraum wurden Tanz-Darbietungen von Schobermanns Volkstanz-, Squaredance- und Gymnastikgruppe aus Harburg geboten.
Dazwischen gab es Tanz für alle bei Live-Musik und Sketche auf der Bühne.
Um Mitternacht verkündete eine Ansagerin aus der Tanz-Gruppe: „Sehr verehrte Damen und Herren, nun muss der Jubilar noch eine persönliche Mutprobe bestehen.“
Sie hieß ihn, sich auf einen Stuhl in die Mitte des Saales zu setzen und band hinter der Lehne seine Hände fest. Ein Scheinwerfer beleuchtete diese Szene.
Eine leicht bekleidete hübsche junge Bauchtänzerin näherte sich ihm unter orientalischen Klängen und tanzte, wedelte und wuselte um ihn herum. Dabei roch er ihr starkes Parfüm.
Manches Mal berührte sie ihn leicht mit einem ihrer Wedel – Tücher. Nun verband sie ihm mit einem schwarzen Tuch die Augen.
Auf einmal herrschte Totenstille im Saal.
Herr Schobermann spürte, wie sich die Tänzerin ihm auf einmal näherte und rittlings auf seinen Schoß setzte. Dabei verabreichte sie ihm einen lang andauernden innigen Kuss.
Der Kuss war Herrn Schobermann nicht unangenehm.
Danach stand sie auf, die Musik setzte wieder ein , und sie tanzte. Der Scheinwerfer erlosch, das Licht im Saal ging an, und die Bauchtänzerin verschwand, nicht, ohne dem Jubilar noch einen Handkuss zugeworfen zu haben.
Alle im Saal lachten. Herr Schobermann konnte sich den allgemeinen Heiterkeitsausbruch nicht erklären. Er war noch immer ganz verwirrt von dem Kuss und dem Parfüm, das er bei der auf seinem Schoß sitzenden Frau wahrgenommen hatte.
Noch lange rätselte Schobermann, weshalb die Gäste alle sich vor Lachen bogen.
Auf seine Frage „Was ist los?“ hörte das Lachen erst recht nicht mehr auf. Bis seine Frau ihn an die Seite nahm und erklärte, sie hätte sich auf Geheiß der Tänzerin auf seinen Schoß gesetzt. Dabei hatte die Tänzerin Frau Schobermann kräftig mit ihrem durchdringen Parfüm eingesprüht, damit er einen Unterschied zwischen den beiden Frauen nicht merken würde. Das alles hatte die Harburger Tanzgruppe arrangiert.
So weit kann‘s kommen, wenn man als Jubilar einer „Verstehen Sie Spaß“- Kampagne auf den Leim geht!