„Früher war alles besser, die Jugend ist der Untergang des Abendlandes – so schallt es von Generation zu Generation.
So müssen sich die heutigen Elterngenerationen mit der heutigen Jugend abfinden. Sie können sich aber trösten, denn auch die heutige Jugend wird später sagen: „Früher, als ich in Deinem Alter war, war alles besser!“.
Sokrates lebte von 469 bis 399 vor Christus in Athen. Er hat schon vor über 2000 Jahren festgestellt:
„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte.“
Er hatte nicht ganz unrecht. Von ihm stammt auch die Feststellung:
„Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine weit vom Sitz weg übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“
Schobermann könnte hinzufügen:
Sie setzen sich an den Tisch, wenn die Erwachsenen einschließlich der Damen noch nicht sitzen, bedienen während des Essens ihr Smartphone, stehen auf, wenn andere noch nicht mit dem Essen fertig sind, gestikulieren mit ihren Daumen nach rechts, nach links und nach hinten, pulen während des Essens ohne verdeckten Mund nach Speiseresten in ihren Zähnen.
Sie blättern in fremden Zeitschriften und befeuchten ihre Finger vor jedem Umblättern mit der Spucke ihres Mundes.
„Doch siehe: Das Abendland ist noch immer nicht untergegangen!“, sagt er jetzt.
Zum Glück sind viele jungen Leute hilfsbereit.
Es gibt Jungen und Mädchen, die für eine Vergünstigung „danke“ und „bitte“ sagen und fragen, wenn sie beabsichtigen, eine Indiskretion begehen zu wollen, ob sie helfen können, sind umsichtig und gehen zur Hand, helfen in den Mantel und melden sich an und auch ab
Jedesmal, wenn Herr Schobermann mit seinem Rollstuhl auf einem Bahnhof war, fragten ausnahmslos junge Leute, ob sie beim Gefährt mit anfassen und es mit hochheben dürften.
So hatte es bisher keine Not für Herrn Schobermann, mit dem Zug, dem Bus oder der Straßenbahn zu fahren.
Aber von wegen: Früher wäre alles besser gewesen! Kaum etwas war früher besser!
Da gab es Kriege in Europa, von Bomben und Granaten zerstörte Städte, zu knapp zugeteilte Lebensmittel und Kohlen nur gegen Zuteilungsmarken, die aus Karten herausgeschnitten werden mussten.
Im großen Waschkessel brodelte am Samstag und Sonntag entweder die Wäsche mit grüner Seife oder der noch dünne, widerlich riechende Saft aus vom Feld geholten und geschnitzelten Zuckerrüben, der später zu Rübensirup eingedickt war.
Es gab nur Kohleöfen, Plumpsklos, und den Waschtag in einer extra dafür vorgesehenen und eingerichteten Waschküche ohne Maschinen.
Es gab Stromsperren und Verdunkelungspflicht. Es gab keinen Kühlschrank, noch kein Fernsehen. Nur Röhren-Gleichrichter-Radios, um den Sender der Mittelwelle empfangen zu können. Funkverkehr, fremde Sender hören und politische Witze waren bei hohen Strafen verboten.
Kaum jemand besaß ein Telefon. Vom Haus und von der Straßenbahnhaltestelle mussten Herr Schobermann wie alle anderen weit laufen.
Schulbusse gab es nicht. Benzin war auch in der Nachkriegszeit knapp und teuer. Ein Auto hatten nur ganz wenige, und die es hatten, denen wurde es spätestens von der sowjetischen Besatzungsmacht beschlagnahmt.
In den kleinen „Tante-Emma-Läden“ wurden mit einer Handwaage abgewogene in Papiertüten gefüllte Mehl, Zucker, überhaupt alle „Nährmittel“ mit einer kleinen Schaufel aus einem Sack und einer Tonne oder Rübensirup und Kunsthonig aus einem Fass in ein mitgebrachtes Einweckglas abgefüllt.
Als Kaffee gab es nur „Muckefuck“ aus geröstetem zermahlenem Gerstenmalz.
Tee gab es nur aus Kräutern, die Schobermann als Schüler pflichtgemäß sammeln musste.
Schokolade war unerschwinglich. Der, die man selten bekam, fehlte die Kakaobutter, denn was als solche verkauft wurde, schmeckte sandig und grießig und wenig süß.
Die „Südfrüchte- und Delikatesswaren“-Läden waren leer. Wenn man Glück hatte, gab es irgendein ein heimisches Gemüse.
An Fisch war überhaupt nicht zu denken.
Die Russen belieferten ihre Besatzungszone mit Kamtschatka-Krebs-Konserven.
Beim Essen hatte Schobermann immer die durch lange Lagerung aufgeweichten Kalkskelette im Mund und schluckte sie mehr oder weniger mit hinunter. Der Hunger befahl es.
Schlange stehen nach gummi-elastischem orangefarbenem Käse oder mit der Alu-Kanne beim Fleischer nach Fleischbrühe, Wurstsuppe oder Knochen war gang und gäbe. Schobermann wurde bei Wind und Wetter als Kind losgeschickt.
Wenn er dran kam, war manchmal alles ausverkauft. Der Rückweg war enttäuschend schrecklich.
„Wenn du eine Schlange siehst, stellst du dich hinten an!“ sagte seine Mutter, die im Krieg und nach dem Krieg als Kriegerwitwe den ganzen Tag in einer Schuhfabrik gearbeitet hatte.
Mehlsuppe und Brotsuppe aus altem harten Brot mit etwas Zucker drin waren für Herrn Schobermann eine Delikatesse.
Als Kinder holten er und seine Klassenkameraden zum Teil vergammelte Süßholzwurzeln aus der Teefabrik Halle an der Saale („Sucusa“, ehemals „Wybert“-Salmiakpastillen) und kauten sie als Zucker-Ersatz, dass die Mundwinkel und Hände immer gelb aussahen.
„Leineweber“ als geschnitzelte Kartoffeln auf der heißen Senking-Eisenringe-Kohleofen-Platte waren ein Festmahl!
Ein Glück, dass es die „Mittelstandsküche“ mit dem alten Relikt eines Tucher-Bräu-Mohrenkopf-Schildes außen gab, in der man ohne Lebensmittel-Marken einen Teller Eintopf zu essen bekam, manchmal auch zwei.
Und die war immer voll Menschen.
Schobermann versuchte erst gar nicht, seinen Enkeln aus seinem bewegten Leben zu berichten. Als er nämlich anfing, er hätte wie alle Jungen der Schul-Oberstufe den Mädchen die Tasche getragen, ihnen in den Mantel geholfen oder ihnen die Tür aufgehalten, hörte er, wie einige sagten:
„Der Opa tickt wohl nicht ganz richtig! Der hat sie doch nicht alle!“