Auf der einen Seite freut Schobermann sich, wenn er gute Nachrichten erfährt.
Er fragt sich aber auch, weshalb Elfriede täglich wiederholt: „Alles bestens!“
Elfriede ist 85 und gehbehindert und wird von einer Verwandten im Rollstuhl gefahren, wenn sie frische Luft schnappen möchte und jemand gerade Zeit für sie hat.
Schobermann hätte sich gern einmal wieder mit ihr unterhalten, aber er hat meistens selbst den Kopf voll und einen vollen Terminkalender.
Wen Schobermann auch hört, sie alle müssten eigentlich in einer Art Paradies leben, wenn sie auf seine Frage „Wie geht es Ihnen?“ antworten:
„Alles gut!“, „Bestens!“, „Kann nicht klagen!“, „Alles paletti!“, „Alles im grünen Bereich!“, „Könnte nicht besser sein!“
Da bleibt dem Fragenden nichts anderes übrig, als zu antworten:
„Na, dann ist ja alles gut!“
Von wegen! Nichts ist gut!
Es handelt sich wohl um einen Ehrenkodex, nicht zugeben zu wollen, wenn es Schwierigkeiten auf verschiedenen Ebenen gibt. Wer hat keine Probleme zu bewältigen? Von Corona soll hier gar nicht die Rede sein. Corona gehört jetzt zum täglichen Leben dazu, als hätte man ein neues Mitglied in seinen Reihen!
Wenn einen die Menschen erwartungsvoll anschauen, das macht Mut, sie zu fragen, wie es geht.
Aber man braucht gar nicht erst in Erwägung zu ziehen, weiter zu fragen, weil postwendend die Antwort kommt, als sei sie am Morgen vorm Spiegel geübt worden.
„Alles gut? Und selbst?“ „Alles prima!“ kriegen beide Beteiligten zu hören.
Schobermann wollte eigentlich zum Besten geben:
Ein Enkelkind ist krank, das andere hat noch immer keinen Studienplatz, das dritte bekommt kein Bafög, die Familie ist wieder einmal zerstritten, die Freundin hat einen Schlaganfall erlitten, der Staubsauger und die Waschmaschine sind kaputt, als ob sich die beiden abgesprochen hätten.
Nichts ist in Ordnung.
Aber auch gar nichts!
Dennoch heißt es stets: Alles gut! Alles bestens! Alles klar!
Die Frage „Wie geht es?“ lässt außer der allgemeinen positiv ausgeprägten Floskel keine andere Antwort zu.
Und wer sagt schon: „Behellige mich nicht mit deinen Problemen. Erzähl‘ mir lieber was Schönes!“
Schobermann überlegt: „Ist es Desinteresse oder Überforderung bei der Antwort „Alles gut!“?
„Lass mich in Ruhe. Ich habe meine eigenen Sorgen!“ unterstellt er der Person, bei der er sich mal aussprechen, oder, wie es so schön im Volksmund heißt, bei einem außerfamiliären Zeitgenossen sein Herz ausschütten könnte.
Die Frage, so sinniert er weiter, ist jetzt plötzlich eine Beschwörung und die Antwort eine Beschwichtigung. „Alles bestens!“
Jetzt, im Zeitalter der Einhaltungspflicht des obligatorischen Sicherheitsabstandes, wären Nähe und Anteilnahme bei der Frage „Wie geht es dir eigentlich wirklich?“ besonders angebracht.
„Was (also) tun, sprach Zeus“, um eine weitere Redensart aus der Floskelkiste zu bemühen.
Da gibt es nur ein Mittel: Sich gegenseitig besser zuhören. Interesse zeigen. Bilden wir uns einfach ein, die Menschen sind erwartungsfroh und interessiert, wenn sie uns anschauen und uns zuhören.
Doch Floskeln sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken.
Sie sollen wohl in unserem Unterbewusstsein dafür sorgen, dass gewisse Steifheiten gelockert und Distanzen verringert werden. Der Pessimist, der mit dem halbleeren Glas, wird immer sagen: „Floskeln verhunzen unsere Kultur“. Der Optimist, der mit dem halbvollen Glas, sagt: „Es wird sie als Bereicherung immer geben, in jeder Sprache, in jeder Gesellschaft“.
Alles klar? Alles bestens!
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Helmut Franke: Kurzgeschichten; Betrachtungen, Dezember 2021