Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich habe – nicht mit der Post – auf sehr mysteriöse Weise einen Brief bekommen, der die Struktur von Serviettenpapier hat, vielleicht sogar geschöpft ist, und das farbige Konterfei von Königin Luise von Preußen beinhaltet, nebst Abbildungen vom Berliner Schloss, das es bekanntlich heute nicht mehr gibt.
Alles ging so blitzschnell, lief in Sekundenbruchteilen ab. Für einen Augenblick war das Licht dämmerig-grau. Ein riesengroßes, langhaariges graues Wesen flog im Zeitraffer-Tempo gleich einer Gestalt von Ikarus-Abbildungen im Tiefflug durch meine Straße, warf im Fliegen den Brief so ab, dass dieser direkt vor meiner Tür landete. Ich fegte gerade Schneereste von der Eingangstreppe und bekam das Geschehen aus dem Augenwinkel von rückwärts mit. Furchtbar erschrocken! Holen sie dich denn jetzt? war mein einziger Gedanke. Bin i c h dran? Darauf wurde es wieder hell.
Physikalisch unmöglich, dass so ein leichter Brief mir wie ein Stein direkt vor die Füße fallen konnte, war mein nächster Gedanke. Auf der Rückseite des Umschlages sind eine Krone – und ein grauer Engel abgebildet, der dem „himmlischen Boten“ im Kleinformat aufs Haar ähnelt! In Schnörkelschrift mit verwischter Tinte neben dem Bild nur die beiden Vermerke: „Euch und Eurer entzückenden Gemahlin herzliche Grüße. Luise v.Pr.“ und: „Wie konntet Ihr den Onkel meines Schwiegervaters für Mozart halten?“ Woher weiß sie, dass ich seit meiner Kindheit für sie schwärme? Wie kann sie wissen, dass ich beim Fernseh-Quiz ein Bild von Menzel falsch interpretiert habe? Eigentlich hatte ich bisher nicht an Geister geglaubt. Dennoch: Eine unsichtbare Macht zwingt mich, ihr zu schreiben. Nur ein Problem hätte ich noch: Wie bekommt sie meinen Brief? Wie soll ich reagieren? Soll ich überhaupt reagieren? Was erwartet Ihr von mir? Hofft Ihr, Majestät, mir alsbald im Jenseits zu begegnen? Dann hielte ich Eure Maßnahme für einen makabren Scherz.
An Ihre Majestät, Königin Luise von Preußen Stelle, den 2006-01-19 (in Eurer Zeit zum Herzogtum und Königreich Hannover – Braunschweig gehörend) Königliche Hoheit, Als Euer ergebenster Diener von Ihro Gnaden gewähren Sie mir die Bitte, Euer Hochwohlgeboren Mittheilungen aus und von meiner Zeit in die Ihrige transferieren zu dürfen und mich für Ihre werthen, wenn auch kurzen königlichen Zeilen zu bedanken. Eure Botschaft aus dem Jenseits war mit Hilfe eines Engels auf meine Hausvordertreppe geflattert!
Soll ich’s für mich behalten? Meine Zeitgenossen nehmen mir Euren königlichen Spuk gewiss nicht ab. Mein Ansehen gerät möglicher Weise durch Euch in Gefahr. Na gut, ich fange mal an. Wo fange ich eigentlich an? Ich bin ja zweihundert Jahre von Euch entfernt! So alt wird – mit Verlaub – kein Schwein! Bäume vielleicht, ja. Manchmal habe ich mir allerdings gewünscht, unsterblich zu sein oder wenigstens tausend Jahre alt zu werden. In meiner Zeit haben wir keine Peitschen knallenden und ins Horn blasenden Postillione auf Postkutschen mehr wie in der Euren. Mit Siegellack petschierte Briefe und Päckchen werden auch nicht durch reitende Boten und Postreiter befördert.
Durchlaucht, es fiele mir schwer, Euch zu erklären, wie man in meiner Zeit Nachrichten, Geld und Waren transportiert. Das Einzige, was seit Eurer Majestät Zeit geblieben ist, ist das Geld. Es ist so knapp wie in jeder früheren Epoche. Keiner kommt damit aus. Keiner kann davon genug bekommen! Seit es die Phönizier vor circa 5000 Jahren erfunden haben, herrscht daran allgemeiner Mangel. Freilich: Taler, Silbergroschen, Schillinge und Gröschel , die Dukaten, Gulden, Reals, Dublonen, Louisdors, Kronen, Heller, Batzen und Kreuzer sind Legende geworden. Ihr werdet Euch sehr darüber wundern, dass kein Schulkind meiner Zeit die Namen der genannten Geldstücke kennt, geschweige denn etwas weiß über das komplizierte Umrechnungssystem zwischen diesen „Währungen“! Die Bücher und Unterrichtsinhalte sehen das einfach nicht vor, weil sie vollgepfropft sind mit Informatik, Datenverarbeitung, Computertechnologie, Bionik, Gentechnologie, Mikro- und Makroelektronik, Psychologie,Unterhaltungselektronik, Television, Ökologie, Soziologie, Foto- und Videotechnologie, Atomenergie-, Weltraum- und Raketentechnik, Kunststoffverarbeitungs-Techniken, Wirtschafts- und Animateur- Management und Marktforschung sowie Showbusiness-Entertainment.
Majestät, darf ich mir thunlichst die Frage erlauben, ob Euch beim Lesen dero Wörter nicht schwindelig geworden ist? Ihr seid für mich als Euren ergebenen Unterthan die Lady Diana Deutschlands, weil Ihr an Klugheit, Schönheit und Anmut mit dieser Lichtgestalt meiner Zeit vergleichbar seid, die sich wie Ihr großer Beliebtheit beim Volke erfreute und jung sterben musste wie Ihr, Durchlaucht. Oh, verzeihen Sie mir Unwürdigem, dass ich dies verriet, da ich doch die Vergangenheit kenne! Kenne? Nein, nur nachgelesen habe ich sie. Ach, die Ruth Leuwerik sah ich als Königin Luise im Kino! In Technikolor, versteht sich! Damals gab es allerdings noch keine Breitleinwand und kein Cinerama mit Drei-D-Effekt! Mit Dieter Borsche als Euerem Gemahl!
Wie Ihr Napoleon Bonaparte 1807 in Tilsit mit Eurem Charme, Eurer Schönheit und Eurem Esprit Paroli geboten habt, ohne mit ihm, diesem Lüstling, das Kopfkissen zu theilen, wie es die Japaner dezent auszudrücken pflegen geruhen. Nein, wie Ihr den Franzosenkaiser um den kleinen Finger gewickelt habt, obwohl Ihr die politisch Unterlegene wart, das machte Euch so leicht Keine nach! Ihr zeigtet dem „Emperieur“- mit Verlaub -, wo der Bartel den Most holt, ich meine natürlich – bei allem Respekt – wie Ihr ihm charmant die Leviten gelesen habt, ohne unhöflich und beleidigend zu wirken, ich meine, wie Ihr ihn in seine Schranken verwiesen habt! Faszinierend! Wer ist und war nicht gefangen von Eurer Schönheit? frage ich.
Ich liebe die „langen Baby-Doll-Kleider“ Eurer Zeit, die auf mich stets irgendwie engelhaft- feenhaft wirkten, und die die Frauen einst auf dem Wiener Kongress „bei der Neuordnung Europas“ zum Walzer-Ball 1815 nach Eurem, Josephines und Marie-Louises Vorbild, Bonapartes zweiter Frau, tragen werden, eine Mode, die sich in meiner Zeitepoche allerdings nur bei langen Umstandskleidern und Damen-Nachthemden erhalten hat. Das lange Kleid, von Eurem Hofmaler Johann Friedrich August Tischbein in Pastell gemalt, steht Euch ausgezeichnet, darf ich mir unterthänigst erdreisten zu sagen! Ich weiß, dass dieses bis unter die Brust hochgebundene Kleid in der Geschichte den Beinamen „Josephine-Kleid“ bekommen hat.
Übrigens sind seit Napoleon die Ehescheidungen und das metrische System bis in meine Zeit in Mode geblieben! Uber das Eine bin ich froh: Wir messen nicht mehr in Meile, Fuß, Elle, Zoll, Spanne, Klafter, Scheffel und Unze, Mandel und Schock, Acre und Morgen wie zu Eurer Zeit! Ich schreibe im Jahr 2006, und die Probleme in der Welt haben sich gegenüber Eurer Zeit keineswegs verringert, lediglich verlagert! Das „Hosianna!“ und das „Kreuzigt ihn!“ liegen immer noch dicht beieinander, wenn auch auf andere Art als früher, und die Hemmschwellen der Menschen in ethischer, moralischer und humaner Hinsicht sind allgemein nicht nur kleiner geworden, sondern zum Teil durchbrochen! Die Leute sehnen sich wieder nach Sitte und Anstand!
Wir feiern gerade das Mozart-Jahr. Nach meiner Zeit wurde vor 250 Jahren der begnadete Komponist Wolfgang Amadeus Mozart geboren. Er hat der Menschheit unsagbare Schätze der Musik hinterlassen! Ich weiß, Majestät, dass Ihr seine Musik liebtet. Wie könnt Ihr wissen, dass ich den unverzeihlichen Fehler begangen habe, Friedrich den Großen, den musizierenden, Flöte spielenden Onkel Eures Schwiegervaters für Mozart zu halten, obwohl ich das berühmte Bild von Adolf Menzel mehrfach in meinem Archiv habe? Das kommt davon, dass sich zur Zeit bei uns alles um Mozart dreht: Mozart auf Krawatten, Mozart auf Trinkbechern, auf Tellern, Spiel- und Zuckerdosen, auf Handtüchern und Badelaken, auf Pralinen , auf Briefmarken, auf Medaillen und Gedenkmünzen, auf Postkarten, Stickern, Postern und Aufklebern, als Tätowierung und auf Fußbällen. Sogar in Videospielen und auf dem Gameboy ist er vertreten. Man sieht Leute ab und zu mit Mozart-Frisuren auf der Straße, obwohl noch keine Karnevalszeit ist!
Und die Fußball-Weltmeisterschaft hat der Kaiser Franz nach Deutschland geholt! Ach, verzeiht, Königliche Hoheit, was schreibe ich da? Es gibt doch schon lange bei uns keinen Kaiser mehr! Und wie soll ich Euch erklären, was Briefmarken und Videospiele sind, und was man unter Fußball und Prozent versteht? Meine Verehrung für Euch, Majestät, drückt sich auch darin aus, dass Euer Mythos mich dazu inspirierte, in Bad Freienwalde in einem Eurer wundervollen Gärten und Schlösser spazieren zu gehen und während meines Aufenthaltes dort ein dort 140 Seiten starkes Wörterbuch über Bezeichnungen und Anreden von Personen in alter und neuer Zeit zu beginnen, das inzwischen fertig ist , aber wegen der ständig hinzukommenden Flut von Modewörtern eigentlich nie fertig werden kann!
Den Königin-Luise-Weg in Bad Freienwalde, wie er heute offiziell heißt, bin ich oft gegangen! Änderte sich in Ihrer Zeit die Sprache auch so schnell wie in meiner Zeit? Schade, dass ich es Euch nicht zu lesen geben kann! Schade, dass ich nicht zu Euch in die Vergangenheit reisen kann, denn manches Mal fühle ich mich wie tausend Jahre alt. „Es kann die Spur von Erdentagen nicht in Äonen untergeh’n!“ Wie Doktor Faust möchte ich sein! Mit allen Privilegien! Dann würde ich Euch den großen Dichter Eurer Region, Theodor Fontane vorstellen, dessen Denkmal in Bad Freienwalde steht. Goethes „Faust“ habt Ihr leider nicht mehr erlebt! Goethe hat sich in seinem unsterblichen Werk mit seinem Idealbild vom Menschen über Zeiten, Religionen und Ideologien hinweggesetzt und ähnlich Voltaire und Lessing eine Lebensformel gefunden, an die sich nur Keiner hält! Die Menschen von meiner Zeit suchen nach ganz anderen Lebensformeln. „Gentechnologie“ nennen sie das und meinen, dies sei nun der Weisheit letzter Schluss!
Euer unterthänigster Verehrer und ergebenster Diener aus der Zukunft verabschiedet sich von Euch mit einem Gedicht: „Ich habe einen Tiger, der war mal Segelflieger. dann fiel er auf die Landebahn und brach sich einen Tigerzahn. Er blieb ’ne Weile liegen. Jetzt hat er Angst vorm Fliegen!“ Ich glaube, es hat Euch, Majestät, ein wenig gefallen. Ihr denkt natürlich gleich an Dädalus und Ikarus, deren Namen man in der Endsilbe statt des griechischen „O“ in meiner Zeit auch mit „u“ schreiben darf. Manchmal fühle ich mich wie einer dieser beiden tollkühnen Flieger, weil wir Menschen es einfach nicht schaffen, das Paradies wiederherzustellen! Gott würde sagen: „Es war halt einen Versuch wert! Es gibt wieder eine neue Evolution!“ und die Hand am Kopf vorbei nach hinten schlagen, eine Modegeste meiner Zeit, ähnlich wie der hoch gestreckte Mittelfinger oder das „O“-Zeichen mit Daumen und Zeigefinger, die man nicht unbedingt als Errungenschaften der Menschheit ansehen kann!
Womit habe ich Eure Huld verdient, ein Bild von Euch auf königlichem handgeschöpftem Papier mit dem Hintergrund des Königlichen Schlosses in Berlin zu bekommen? Darf ich, der Briefschreiber aus der Zukunft, Euch unterthänigst ersuchen, uns einen guten Platz reservieren zu wollen, damit wir, Majestät, ungestört einmal zusammen plaudern können? Ich hätte so viele Fragen an Sie zu stellen, die die Geschichtsschreibung einfach offen ließ. Früher hätte ich mich Herz klopfend mit einer schönen Dame zu einer bestimmten Zeit verabredet. Aber, seid versichert, Hoheit, dass mir auch schon jetzt das Herz klopft bei dem Gedanken, einen kleinen Bonus bei Euch eingeräumt zu bekommen. Also, „Sie Zeitlose“! Bis zum Treffen mit einem noch Zeitgebundenen! Was heißt schon Zeit? Unser Leben, selbst das Erdzeitalter, ist nur ein Wimpernschlag im Gefüge Gottes. Euer ergebener Diener Helmut Franke
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Nachwort: Noch ein zweites Problem ist aufgetreten. Der Brief von Ihrer Majestät ist wie vom Erdboden verschwunden, wie von Zauberkraft weggeblasen. Hilfe! Warum glaubt mir denn Keiner?