Nicht der äußere Schein

Auf seiner Bahn-Reise nach Rostock lernte Herr Schobermann die Frau kennen.
Keine Schüchterne, sondern eine, die mitten im Leben steht, stellte er fest.
Sie nahm im Zug ihm gegenüber Platz und begrüßte ihn wie eine alte Bekannte.
„Hallo! Wie geht’s?” Die Frau lächelte, als sie sich hinsetzte.

Sie beugte sich zu ihm herüber und wiederholte ihren Gruß vom Anfang, in einer eigenartig fröhlich-lauten Stimmlage. Schobermann merkte, wie ihr Kopf einen Schatten auf sein Gesicht warf, und drehte sich vorsichtig zu ihr hin. „Hallo”, sagte er mit einer Extraportion Gleichgültigkeit und einer unverkennbaren Prise Uninteressiertheit.
„Ich sitze gern am Fenster und in Fahrtrichtung.“ sprach sie ihn weiter an.
Herr Schobermann wusste nicht, was er erwidern sollte. Ihm war es eigentlich egal, wo sein Sitzplatz war, die Hauptsache, er saß. Als alter Mann war er nicht mehr an jüngeren Frauen interessiert.

Sie hatte nicht die Figur eines Models, war pummelig, hatte auch nicht das Gesicht einer Schönheitskönigin, war ganz einfach in Jeans, Pullover und Weste gekleidet.
So saß sie ihm gegenüber. Eigentlich so etwas wie eine „graue Maus“, unscheinbar, mit Brille am Band über ihrem Busen hängend, das Haar zu einem für ihr Alter mit zu jugendlich zusammengebundenem Pferdeschwanz, fand er.
Er nahm seine Zeitung wieder auf und zeigte ihr damit, dass er kein Interesse an weiteren Gesprächen haben wollte.

„Wollen Sie auch nach Rostock?“ fragte sie auf einmal.
Ohne eine Antwort ihres Gegenüber abzuwarten, erzählte sie von sich:
Ja, sie verbinde ihre Reise zu Bekannten in Eberswalde mit einem Besuch zu ihrem Neffen, der in Rostock Informatik und Physik studiere.
Mit großem Ehrgeiz versuchte sie weiterhin, die einseitige Unterhaltung fortzuführen. Nach wenigen Minuten wusste ihr Gegenüber zum dritten Mal, dass sie nach Eberswalde fährt, dort ihre Freunde besucht und sich wie wahnsinnig auf das Wiedersehen freue. Außerdem hätte sie eine Liste von Dingen, die sie für die Schüler ihrer Klasse besorgen wolle. Denn sie sei Grundschullehrerin an einer Schule in Mölln und heiße Heidi. Ihr Leben lag nun quasi ausgebreitet vor Herrn Schobermann !
So eine „Offenbarung“ war ihm noch nie vorgekommen.
Langsam verblasste das Gefühl der Gleichgültigkeit in ihm. Ihr Gesicht hatte inzwischen etwas Offenes, Lebendiges und gleichzeitig wohltuend Beruhigendes für ihn.
Ob er wollte oder nicht: Seine Interesslosigkeit ebbte ab.

Man konnte es tatsächlich Gespräch nennen, was die beiden führten. Und er stellte fest: Heidi ist einerseits eine gute Zuhörerin, hat andererseits auch einiges auf dem Kasten. Sie ist belesen, das merkte er sofort. Von Haushalt über Kunst und Kultur bis hin zu Philosophie – sie konnte überall mithalten. Aber nicht übertrieben altklug und bierernst, sondern immer mit einem Lächeln im Gesicht. Und das Allerbeste: Sie schaffte es sogar, ihren in ihrer Nähe sitzenden Mitreisenden ebenfalls ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Einfach nur durch ihre offene und positive Art. Verrückt! Das erinnerte Herrn Schobermann an den Kurzfilm „Wartesaal“ aus den Neunziger Jahren, eine niederländisch-deutsche Produktion, die im Amsterdamer Hauptbahnhof spielt.¹)
Lächeln überträgt sich auf andere! Wie heißt doch so ein schönes Sprichwort:
„Ein Lächeln ist die kürzeste und schönste Brücke zwischen zwei Menschen“, erinnerte er sich.

„Gehen wir ins Bordrestaurant? Mein Magen knurrt nämlich schauderhaft! Das Gefühl, welches man im Volksmund umgangssprachlich ‚Kohldampf‘ nennt.²) Sie kennen sicher diese Redewendung? Eines meiner Hobbys: Ich sammle Redewendungen und kategorisiere sie. Macht mir einfach Spaß!“
Schobermann überlegte blitzschnell, ob der Herr auch für eine fremde Dame bezahlen müsse, um als Kavalier zu gelten. Als ob sie seine Gedanken durch den Augenblick seiner Zögerung hätte erkennen können,sagte sie mit einem Lächeln: „Ich bezahle meinen Verzehr natürlich für mich.“

Er atmete tief durch. Eigentlich klang ihre Stimme ja wirklich sehr warm und auch irgendwie einfühlsam. Als der Bordservice kam, war sie unglaublich fürsorglich und achtete darauf, dass ihr Gegenüber auch ja den richtigen Platz bekommen hatte.
Außerdem gebrauchte sie ein nettes Wort für den Bordsteward:
„Es ist richtig nett, wie Sie uns bedienen und eine Kerze anzünden!“, sprach sie die Bedienung an.
Als das Dessert aufgetragen wurde, hatte sie den Mut zu sagen:
„Ein Fingerhut voll Schoko-Pudding als Nachtisch. Den werde ich mir aber lieber mal schön einteilen. Alles auf einmal schaffe ich niemals!”
Auf diese Weise brachte sie alle zum Lachen, die Bedienung eingeschlossen.

Wie konnte es Herr Schobermann fertig bringen, den nun folgenden Fauxpas zu begehen!
„Haben Sie schon einmal über Abnehmen nachgedacht?”
Kaum hatten diese Worte seine Lippen verlassen, hätte er sie gern wieder eingefangen und hinuntergeschluckt. Aber Heidi reagierte ganz locker und gelassen: „Nein, wieso auch? Mein Körper war harte Arbeit! Außerdem fühle ich mich wohl darin. Warum sollte ich also daran etwas ändern wollen ?
Man fühlt sich doch nur wohl, wenn man mit sich selbst im Reinen ist. Und dazu gehört mehr als 90-60-90! Warum sollte ich auch meine Zeit für Diät-Kuren verplempern?”
„Und wie ist es mit Krankheiten? Gar keine Angst vor Problemen mit Herz oder Kreislauf?”, hakte Herr Schobermann interessiert nach. „Ach nein! Krank wird man doch nur, wenn man ständig daran denkt. Selbsterfüllende Prophezeiung, sagt Ihnen das etwas? Daran glaube ich ganz fest.

Heidi hielt kurz inne und schaute gedankenverloren ins Leere. „Wissen Sie, die Sache mit Männlein und Weiblein ist wie ein Buch mit sieben Siegeln und kompliziert bis ins Letzte. Frauen vergöttern ihre Männer über alle Maßen und nennen sie solange Honigbärchen, bis er sich den ersten Fehltritt leistet. Dann versprühen sie Gift und Galle, und es wird nie wieder wie vorher sein. Männer wünschen sich nichts sehnlicher, als in einer Frau ihren Seelengefährten zu finden, mit dem sie gemeinsam Pferde stehlen können. Doch wenn sie ein paar Jahre später auf ihre Kreditkartenabrechnung schauen, trifft sie der Schlag, weil sie annehmen müssen, die Angebetete habe die Pferde nicht geklaut, sondern gekauft. Und einen ganzen Reiterhof gleich noch dazu. Und dann brennt der Baum!”

Schobermann lächelte und nickte. Was muss diese Frau für Erfahrungen im Leben gemacht haben und konnte doch noch so fröhlich und aufgeräumt sein! Wie sie die Dinge auf den Punkt brachte, hatte er so noch nie erlebt. Und überhaupt: Heidis unterhaltsame Art hatte ihr Zusammensein zu einer kurzweiligen Plauderei werden lassen. Und nicht nur er war begeistert: Inzwischen hatte Heidi es geschafft, dass die am Nebentisch Sitzenden sich köstlich amüsierten. Und mittendrin sie, die für jeden das passende Wort parat hatte und eine Herzenswärme ausstrahlte, der er sich einfach nicht entziehen konnte.

Angekommen in Rostock, war es auch schon Zeit, Abschied zu nehmen. Sie gaben sich die Hand, und er sagte, dass die Zeit wie im Fluge vergangen sei. Und dafür dankte er ihr von ganzem Herzen. Gleichzeitig erinnerte er sich an sein Desinteresse und Vorurteil über diese Frau am Anfang der Bahnfahrt und hasste sich dafür.
Sie winkten noch kurz und er sah ihr einen Moment lang nach. Heidi ging schnurstracks auf eine Gruppe Kinder zu, die schon ganz ungeduldig auf sie warteten. Als sie sich alle in den Arm nahmen und drückten, hätte Herr Schobermann schwören können, dass die Welt für einen Moment still stand. Sie drehte sich noch einmal zu ihm um und zwinkerte ihm zu.
Spätestens jetzt wusste er: Heidi war mit Abstand die schönste und wunderbarste Frau, die er jemals traf.

* * * * *

Anmerkungen:
1)
Der Wartesaal | Film 1995 | Moviepilot.de
(De Wartekamer NL/D  Kurzfilm)
Ein Bahnhof. Züge. Menschen. Ein Wartesaal. Der ideale Schauplatz für flüchtige Begegnungen und oberflächliche Beobachtungen. Kein Platz für Träume, …
Erscheinungsdatum: 1996 (Ersterscheinung)

2)
Kohldampf
Der Ausdruck stammt aus dem Rotwelschen, das ist eine mittelalterliche geheime Gaunersprache. „Kohler“ bedeutete so viel wie Hunger. Die gleiche Bedeutung hatte das Wort Dampf. Also heißt Kohldampf übersetzt nichts anderes als „Hunger-Hunger“!

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