Kiefer-Orthopädisch-Chirurgisches Zentrum in Harburg.
Herr Schobermann ging bereits mit gemischten Gefühlen in den Fahrstuhl bis zum 2.Stock.
In den Gängen im „Ärztehaus“ konnte man sich schon verlaufen.
„Du kommst bestimmt wieder und holst mich hier im Wartebereich ab, ja?“
Frau Schobermann nickte.
Nach seinem Klingeln schnarrte der Türöffner. Wieder ein Labyrinth von Gängen.
Drei geräumige Wartezimmer, niemand sitzt schon um 8:30 Uhr drin.
Die Stühle waren zwei Meter voneinander aufgestellt, wie es die Corona-Bestimmungen verlangten.
An der Rezeption die üblichen Formalitäten. Einen Bogen ausfüllen, Karte abgeben.
Kaum wieder im Wartezimmer, wurde Herr Schobermann aufgerufen.
Der nicht enden wollende lange Gang in das Behandlungszimmer war für Spitzensportler gemacht. Nicht für Herrn Schobermanns augenblickliche Kondition.
Alle weiblichen Mitarbeiterinnen und der junge Arzt lächelten freundlich und sprachen zu ihm wie zu einem Sechsjährigen.
„Das ist nicht so schlimm wie Sie denken!“
Es fehlte nur noch: „Ehe Sie heiraten, ist alles wieder gut!“
Nachdem die Betäubung ihre Wirkung zeigte, wurde das zu malträtierende Opfer auf einer Liege
den langen Gang in einen größeren Behandlungsraum gefahren, der diesmal mit noch mehr Strahlern von der Decke ausgestattet war.
Die Abdeckung über dem Gesicht war angenehm gegen das Blendlicht.
Mit einem schrecklichen Geräusch bahnte sich der Bohrer einen Weg durch Herrn Scobermanns Unterkieferknochen bis hin zu den beiden Zahnwurzeln.
„Sie sind weg!“ rief der Kieferchirurg triumphierend.
„Lesen Sie fleißig durch, was auf dem Blatt hier steht, das ich ihnen jetzt gebe, und kommen Sie in zehn Tagen zum Fädenziehen wieder!“
Schobermann taumelte ins Wartezimmer, mit Mund- und Nasenschutz, versteht sich.
Dort hing er bis 12:00 Uhr seinen Gedanken nach, denn Lesestoffe liegen seit Corona nicht mehr in den Wartezimmern aus.
Mit zunehmender Wartedauer schlich sich bei ihm die Vorstellung ein, dass seine Ehefrau eben nur mal zum Zigarettenautomaten gegangen sein könnte und erst sich wieder nach einem Jahr aus Argentinien melden würde.
Dabei raucht sie doch gar nicht.
Sie könnte auch auf der Straße umgekippt und mit einem Notarztwagen in irgend eine Klinik gebracht worden sein.
Ein Überfall? Eine Entführung? In i h r e m Alter?
Man weiß ja nie!
Alle Viertelstunden rannte ihr Mann zur Rezeption: „Hat eine Frau hier bei Ihnen nach mir gefragt?“ Es hatte keine Frau nach Herrn Schobermann gefragt!
Zwei Stunden und eine halbe Stunde Wartens waren vergangen.
Die Damen in der Anmeldung hinter einer dicken Glasscheibe rieten ihm, nach Hause zu fahren.
„Sie kommt wohl nicht mehr!“ Schweren Herzens verließ Herr Schobermann diesen Klinik-Bereich.
Auf der Suche nach dem Fahrstuhl erblickte Herr Schobermannn eine Dachterrasse, die vorher noch nicht da war.
Auf einer Bank zwischen Astern und Dahlien-Blumenkästen saß sie – bepackt mit einer Paletten-
packung Toilettenpapier.
„Wir hatten nichts mehr!“, rechtfertigte sie ihre hoch gehobene, weithin sichtbare dekorative Last. „Die Rollen Küchenpapier waren schon ausverkauft!“
„O je! Geht das schon wieder los? Deine Sorgen möchte ich haben!“, rief ihr Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Was weiß ich, welchen Anmelde- oder Wartebereich du gemeint hast! Der hier an der frischen Luft schien mir am geeignetsten zu sein!“
Und weiter: „Die haben mich nicht hineingelassen! Du hättest ja auch mal nach draußen schauen können!
Und ich sitze mir hier die Beine in den Bauch!“
Da erst fiel Herrn Schobermann ein, dass entweder das Personal an der Anmeldung ausgetauscht wurde, oder er hatte sich an den zweiten, falschen Anmeldebereich gewandt, der dem ersten ähnlich sah.
„Ich wäre jetzt allein nach Hause gefahren!“ maulte er auf dem Rückweg.
„Ich hatte schon überlegt, ob du einen Austausch gegen einen anderen Mann in Erwägung gezogen hattest!“
Das letzte Wort haben immer die Frauen:
„Mir kam tatsächlich der Gedanke: „Alten brummigen Zausel abzugeben und gegen jungen, strahlenden Märchenprinzen einzutauschen!“